Die Reportage im Rahmen des «Medienhaus»-Sommerprojektes vom 22. August 2015

  • Das Unternehmen: Chirpraktik Bad Ragaz

  • Wer kann sich zurücklehnen? Chiropraktor Dr. Roy Bösiger

  • Wer macht den Job? Medienhaus-Journalistin Saphira Kaiser

  • Die Tätigkeit: Chiropraktikerin

  • Arbeitsort: Praxis in Bad Ragaz

  • Arbeitszeit: 6.30 Uhr bis 16.00 Uhr

Vorschaubild für Reportage "Wir machen Ihren Job" - Vaduzer Medienhaus-Journalisten auf Tour

Den Hals verrenken, eine schnelle Bewegung, ein lautes Knackgeräusch und höllische Schmerzen. So stellt sich so manch einer den Besuch beim Chiropraktor vor. Doch dieser Aberglaube stimmt ganz und gar nicht, das durfte ich heute lernen und auch am eigenen Körper erfahren.

Zwar noch etwas müde, doch gespannt, mache ich mich um 6 Uhr auf den Weg nach Bad Ragaz, wo ich bei der Eingangstür zur Praxis schon von Emilio, dem Blindenhund, freudig begrüsst werde. Denn er ist der treue Begleiter des Chiropraktors Roy Bösiger. Beim Kaffee lerne ich das gesamte Team kennen. Neben Chiropraktik werden in der Praxis nämlich auch Applied Kinesiology, Physiotherapie, Medizinische Massage sowie unterschiedliche Kursprogramme angeboten.

Jetzt ist aber fertig geplaudert und es geht an die Arbeit, denn um 7 Uhr kommt bereits die erste Patientin. Es ist ein elfjähriges Mädchen, das mit ihrer Mutter zum ersten Mal zum Chiropraktor kommt. Seit ihrer Kindheit hat sie Erkältungssymptome, hört vermehrt einen Piepton und leidet oft an Kopfschmerzen. Die Elfjährige hat schon jegliche Ärzte aufgesucht – vergeblich. Niemand konnte ihr helfen. Roy Bösiger stellt sich kurz vor und erklärt, dass er blind ist. Die Elfjährige und ihre Mutter schauen mich mit einem fragenden Blick an, und die Frage «Wie soll denn das gehen?», steht ihnen auf die Stirn geschrieben. Bösiger untersucht die Patientin und behandelt sie anschliessend sanft an Füssen und Bauch. Die Patientin fühlt sich nach der Behandlung besser und bekommt einen weiteren Termin. Später verrät mir Nicole, die Praxisassistentin, dass sie schon öfters von Patienten gefragt wurde, wie Roy denn etwas tun könne, wenn er doch blind sei. Nachdem ich einen ganzen Tag lang an seiner Seite gearbeitet habe und gesehen habe, wie Bösiger seine Patienten von ihren Schmerzen befreit und dankbare Gesichter die Praxis verlassen, kann ich über diese Frage nur noch schmunzeln.

Extrem ausgeprägter Gehörsinn

Denn man merkt Bösiger die Blindheit kaum an – wäre da nicht der sprechende Computer. Ich selbst konnte zu Beginn kaum glauben, dass der Chiropraktor blind ist, denn er weiss genau wie viele Schritte er vom einen zum anderen Praxiszimmer gehen muss, wie hoch die Türklinke ist, wo der Stuhl steht. Er tastet nicht nach Gegenständen, sondern weiss genau, wo sich was befindet. Betritt er einen Raum, spürt er, ob jemand darin ist oder nicht. Als ich ihn frage, wie er das denn mache, meint er bescheiden: «Ich habe eben ein sehr ausgeprägtes Gehör». Dadurch höre er den Atem und wisse, wo im Raum sich jemand befindet. Anhand des Geräuschs der Schritte erkenne er ausserdem, ob jemand hinke. Roy Bösiger hatte schon als Kind eine immer schlimmer werdende Sehbehinderung und musste daher auf eine Blinden- und Sehbehindertenschule wechseln. Mit 14 Jahren erblindete er ganz. Die Umstellung zu einem Leben ohne Augenlicht war für ihn nicht einfach, doch fand er Trost und Kraft im Behindertensport. So sind der Ski- sowie Torballsport noch heute eine grosse Leidenschaft von ihm. Ursprünglich wollte Roy Bösiger Physiotherapeut werden. Als jedoch jegliche Ausbildungsmöglichkeiten für Blinde zum Physiotherapeut eingestellt wurden, kam er auf das Chiropraktikstudium. Dazu zog er im Jahr 2000 zusammen mit seiner Frau Barbara Bösiger, die ebenfalls eine Sehbehinderung hat, nach Los Angeles, wo er das 4-jährige Chiropraktikstudium erfolgreich meisterte. Zurück in der Schweiz absolvierte er seine Assistenz, woraufhin Bösiger 5 Jahre in Sargans arbeitete. Gleichzeitig machte er eine 2-jährige Ausbildung in Applied Kinesiology. Im Jahr 2012 ging dann sein Traum, eine eigene Praxis zu eröffnen, in Erfüllung.

Vom Arbeiter bis zur Nonne

Leider bleibt keine weitere Zeit zum Plaudern, denn der nächste Patient wartet schon. Er muss mit Akupunktur behandelt werden. Dazu hat Bösiger einige extrem dünne, lange Nadeln, welche er mit einem einzigen Handgriff und ohne Tasten aus dem Regal zieht und gekonnt ins Bein des Patienten steckt. Auf dem Behandlungsbett musste noch eine Blockierung gelöst werden – wodurch auch mal ein Knacksgeräusch entsteht. Ich erfahre, dass nicht bei jeder Behandlung ein lautes Knacken hörbar sein muss. Denn das Geräusch kommt vom Gelenkgas, das bei der Überdehnung des Gelenks, freigesetzt wird.

Die nächste Patientin ist eine Nonne. Sie musste bereits den Meniskus operieren und hat nun Schrauben im Knie. Als jedoch weitere Knieprobleme auftauchten, sahen die Ärzte nur noch die Option, ein künstliches Kniegelenk einzuoperieren. Die Nonne wollte jedoch nicht gleich wieder unters Messer, suchte nach einer Alternative und stiess auf Chiropraktik. «Gott sei Dank», sagt die Nonne – sie scheint mit unserer Behandlung äusserst zufrieden zu sein.

Suchspiel nach Ursache für Beschwerden

Ein junger, muskulöser Mann ist der nächste Patient. Er leidet oft an äusserst starken Kopfschmerzen. Auch da hilft die Chiropraktik. Ich selbst taste den Nacken sowie die Wirbelsäule ab und spüre die Verhärtungen im Nacken und helfe Bösiger, sie zu lösen – begleitet von einem Knack-Geräusch. Verspannungen oder Blockaden sind deutlich spürbar: Die Muskelgruppe ist hart und es schmerzt, wenn man darauf drückt. Oft liegt eine Schulter oder Hüfte höher als die andere, ein Bein ist länger oder der Patient hat einen schweren Gang. Mich beeindruckt am meisten, dass die Ursache für ein Schmerzfeld oft in einer ganz anderen Körperregion liegt als die spürbaren Beschwerden. Beispielsweise hat ein Patient Schmerzen im Nacken und wir behandeln den Rumpf. Ein anderer hat zwei ungleich lange Beine, dreht er den Kopf aber zur Seite, sind sie gleich lang. Nach Behandlung des Nackens haben die Beine auch im Normalzustand wieder dieselbe Länge. Um herauszufinden welcher Körperteil bei welchen Schmerzen, Blockaden und Störungsfeldern hilft, macht man Muskeltests. So kann eine Akkupunkturnadel im Arm die Schmerzen im Fuss lindern und die Behandlung des unteren Rückens den Nacken. Doch das Ganze ist sehr komplex und kompliziert für mich. Daher frage ich Bösiger nach einem einfachen Grundrezept. «Wenn etwas weh tut, drück drauf», verriet mir der Chiropraktor. Das werde ich mir jedenfalls merken.

Muskeltests zeigen, wo behandelt wird

Nun betritt ein älterer Herr das Zimmer. Nach einem kurzen Gespräch, wo Bösiger  den Patienten nach seinen Beschwerden sowie den Auswirkungen der letzten Behandlung befragt, soll der Patient auf dem Behandlungsstuhl Platz nehmen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht folgt der Herr der Anweisung. Nun bin ich an der Reihe: Mithilfe verschiedener Muskeltests soll ich herausfinden, was den Schmerz verursacht. In diesem Fall prüfen wir die Oberschenkelmuskulatur. Dazu muss der Patient das Knie so stark er kann nach oben gegen meine Hand drücken. Anschliessend werden verschiedene Körperstellen durch leichten Druck aktiviert, um zu testen, ob der Muskel dadurch gestärkt wird. Da der Patient Mühe mit dem Aufstehen hat – wozu die Bauchmuskulatur verwendet wird – vermuteten wir den Bauch als Problemfeld. Der Test zeigt, dass dies stimmt. Und tatsächlich: nach der Behandlung auf dem Behandlungsbett fällt ihm das Aufstehen viel leichter. Ein weiterer Patient wird mit Applied Kinesiology behandelt. Die Applied Kinesiology ist eine funktionell-neurologische Methode, die manuellen Muskeltests benutzt, um damit strukturelle, chemische sowie emotionale Störungen zu diagnostizieren und durch Naturheilverfahren zu behandeln. Die Applied Kinesiology bietet ausserdem eine einfache  Möglichkeit zur Diagnostik von Allergien, Unverträglichkeiten, toxischen Belastungen, Organ- und Meridianstörungen, Fehlfunktionen im Mund-/Kiefergelenksbereich  sowie psychischen Störungen. Ich kann einige dieser Muskeltests selbst durchführen und assistierte Bösiger beim Heraussuchen der Naturheilmittel, die er für die Behandlung benötigt.

Plötzlich ist es schon 15 Uhr und wir haben den letzten Patienten behandelt. Ich bin erstaunt wie schnell die Zeit verflog, merke aber auch, wie anstrengend der Beruf ist. Als Chiropraktor muss man jedem Patient seine volle Aufmerksamkeit schenken und immerzu aktiv und konzentriert arbeiten. Das braucht viel Energie, macht aber auch Spass. Es ist aber noch nicht Feierabend, den im Büro muss nun noch etwas Papierkram erledigt werden. «Das ist nicht meine Lieblingsbeschäftigung» , gibt Bösiger zu – doch was sein muss, muss sein. Zum Schluss komme ich selbst noch in den Genuss einer Behandlung: Ich lege mich auf das Behandlungsbett, auf dem ich zuvor Muskeln, Gelenke und Bänder vieler Patienten abgetastet, untersucht und mitbehandelt habe. Ich entspanne mich vollständig und geniesse eine sanfte Behandlung. Zum Schluss werden noch meine Zehen durchgeknackst. Ich kann nicht beschreiben, was genau mit mir passierte – denn vieles ist mir noch immer ein Rätsel. Aber als ich aufstehe, fühle ich mich wie neu. Wir verlassen die Praxis und der Hund Emilio freut sich, dass sein Herrchen nun endlich Zeit und Aufmerksamkeit für ihn hat.

2020-06-09T11:04:21+00:00